Road Trip

Road Trip by Kimi04


„Alice, bist du dir sicher, dass das eine gute Idee ist?“, hörte ich meinen Bruder ins Telefon seufzen, begleitet von so viel statischem Rauschen, dass ich ihn fast nicht verstehen konnte.

„Edward, egal ob das eine gute Idee ist oder nicht, aber ich werde Weihnachten ganz bestimmt nicht auf diesem verdammten Flughafen verbringen!“, erklärte ich ihm, während ich mich bereits auf den Weg zu einem der unzähligen Autoverleiher machte, die es an einem Flughafen dieser Größe schließlich massenhaft gab.

„Ja klar. Es ist natürlich viel besser, Weihnachten mit einem Auto im Schneesturm festzustecken“, entgegnete er sarkastisch. Ich seufzte leise und versuchte Ruhe zu bewahren. Edward hatte mich mit seinem ‚Großer-Bruder-Gehabe‘ schon immer gut zur Weißglut treiben können.

„Ich muss ja gar nicht bis nach Chicago fahren, es reicht doch, wenn ich zum nächsten Flughafen komme, der hoffentlich nicht im Schneechaos versinkt“, versuchte ich ihn zu beruhigen.

„Mir gefällt das trotzdem nicht“, murrte mein Bruder, obwohl er wissen musste, dass er mir meinen Plan nicht ausreden konnte. Das hatte er noch nie geschafft.

„Dir hat noch nie etwas gefallen, das ich mir in den Kopf gesetzt habe. Egal worum es ging“, erwiderte ich augenrollend, obwohl er das nicht sehen konnte.

„Und nicht selten habe ich damit auch recht gehabt“, warf er ein, „wenn ich dich nur daran erinnern-“

„Ich muss Schluss machen. Ich melde mich, wenn ich unterwegs bin“, unterbrach ich ihn schnell, bevor er die unzähligen Male aufzählen konnte, wo er gegen einen meiner Pläne gewesen war und mit seinen Einwänden leider Gottes im Endeffekt recht behalten hatte. Ich beendete das Gespräch, bevor Edward noch etwas erwidern konnte und ging schnurstracks auf den ersten Stand eines Autoverleihers zu, den ich auf meinem Weg sah. Mein Herz machte einen freudigen Satz, als ich sah, dass dort niemand anstand, hatte ich doch bereits befürchtet, dass die Verleihstände völlig überlaufen sein würden.
Ich beschleunigte meine Schritte und grinste den Verkäufer breit an, der sich hinter dem Stand von Avis befand

Anstatt zurück zu lächeln schüttelte der Verkäufer jedoch mit dem Kopf und sah mich entschuldigend an. „Sorry, Miss, aber unsere Autos sind alle verliehen. Kaum wurde bekannt gegeben, dass heute keine Flugzeuge mehr starten werden, wurden uns die Autos quasi aus der Hand gerissen“, sagte er, sobald ich in Hörweite war.

„Mist“, murmelte ich zu mir selber, ehe ich dem Verkäufer dankte und mich Richtung des nächsten Verleihers umdrehte.

„Ich bezweifel auch, dass einer unserer Konkurrenten noch Autos zu verleihen hat“, rief mir der Verkäufer hinterher, aber ich achtete gar nicht mehr auf ihn. Es konnte doch nicht sein, dass es an diesem riesigen Flughafen kein einziges verfügbares Auto mehr geben sollte. Das wollte ich schlicht nicht wahrhaben, diese Genugtuung wollte ich Edward einfach nicht gönnen. Ich war wild entschlossen, jeden einzelnen Autoverleiher persönlich abzuklappern, bis ich ein Auto gefunden hatte.

Der Typ von Avis schien jedoch recht zu behalten. Egal zu welchem Autoverleiher ich ging, überall wurde mir gesagt, alle Autos wären bereits vergriffen. Einige waren sogar schon dabei, ihre Stände dicht zu machen, immerhin hatten sie an diesem letzten Tag vor Weihnachten das Geschäft ihres Lebens gemacht, dabei war es gerade einmal 13 Uhr.

Es war wirklich zum Verzweifeln. Warum war dieser blöde Schneesturm ausgerechnet heute und dann noch völlig unerwartet über New York hereingebrochen? Hätte ich gewusst, was es für ein Wetter geben würde, wäre ich bereits gestern nach Hause geflogen und hätte mir dieses dämliche Date, was sich ohnehin als Zeitverschwendung herausgestellt hatte, geklemmt. Ich hätte sogar ein Flugticket gehabt, weil ich normalerweise immer am 22. Dezember nach Chicago flog, um die Weihnachtsferien bei meinen Eltern und meinen Brüdern zu verbringen.

Dieses Jahr jedoch hatte ich auf den letzten Drücker noch einmal alle Pläne umgeschmissen, weil meine Freundin Claire mir unbedingt dieses Blinddate mit einem ihrer Arbeitskollegen aufs Auge drücken musste. Wir würden so gut zusammenpassen und wären wie füreinander geschaffen, sagte sie mir und zwang mich damit in die Knie. Ich vertraute auf ihr Urteilungsvermögen. Claire und ich waren befreundet, seit wir gemeinsam in New York die Kunstakademie besucht hatten und sie kannte mich besser als ich mich selber.

Zusätzlich hatte mich dieses Jahr pünktlich zur Weihnachtszeit eine seltsame sentimentale Stimmung erfasst, ein Verlangen danach, jemanden an meiner Seite zu haben, eine Sehnsucht nach Vertrautheit, Liebe und Beständigkeit. Ich hatte mein geliebtes Single-Leben einfach satt. New York war die Stadt der Singles und es war mir nie schwer gefallen, in einem der diversen In-Clubs einen heißen Flirt abzuschleppen. Doch ich hatte keine Lust mehr darauf, jedes Wochenende auszugehen, immer die gleichen dummen Anmachsprüche über mich ergehen zu lassen, um den einen aus der Masse herauszufiltern, der mich zumindest für eine Nacht nicht langweilen würde. Es nervte mich diesen ganzen Aufwand zu betreiben, um dann doch nur mittelmäßigen Sex zu bekommen mit einer Diskussion obendrein, weil ich ihn schon vor dem Frühstück nach Hause schicken wollte.

Daher kam mir Claires Vorschlag, mich mit diesem Tyler zu treffen, gerade recht. Normalerweise war ich kein Fan von Dates, von Blinddates ganz zu schweigen. Dieses ganze Kennenlernen und Smalltalk halten fand ich meistens eher anstrengend, wenn jemand vor mir saß, den ich nicht kannte und bei dem ich nicht wusste, ob ihn mein Gequatsche überhaupt interessierte. Aber ich war gewillt, mich eines Besseren belehren zu lassen.

Zu schade, dass Tyler leider genau das verkörperte, was ich bisher an Dates verabscheut hatte. Er sah zwar wirklich nicht schlecht aus, wenn man einmal davon absah, dass er kaum größer war als ich, obwohl ich meine flachen Schuhe trug. Darüber hätte ich jedoch hinwegsehen können, wenn er nicht zusätzlich noch so eine unglaubliche Schlaftablette gewesen wäre. Ich musste ihm sprichwörtlich jedes Wort aus der Nase ziehen, er begann kein Gespräch von sich aus und selbst nach zwei Stunden mit ihm – die sich für mich jedoch eher wie zwei Tage anfühlten – wusste ich immer noch nicht viel mehr über ihn als das, was Claire mir vorher verraten hatte.

Ich seufzte frustriert auf, dass dieser Reinfall von einem Date schuld daran war, dass ich jetzt auf dem verdammten Flughafen festsaß. Hätte ich doch bloß nicht Claires Drängeln nachgegeben und das Date auf Anfang Januar verschoben, wenn ich wieder zurück sein würde. Dann wäre ich jetzt schon längst in Chicago und könnte mich von meiner Mom verwöhnen lassen. Aber alle Gedanken über was wäre wenn halfen mir momentan leider überhaupt nicht weiter, während ich durch das Flughafengebäude rannte, in der verzweifelten Hoffnung, doch noch einen Leihwagen ergattern zu können.

Ich befand mich mittlerweile in einem Bereich des Flughafens, der nahezu ausgestorben wirkte. Die meisten Geschäfte waren geschlossen und mir liefen kaum andere Personen über den Weg. Ich konnte mir nicht vorstellen, dass ich hier im Niemandsland einen Autoverleiher finden würde, der geöffnet hatte und wollte schon umkehren, als etwas meine Aufmerksamkeit erregte. Am Ende der Halle sah ich einen Stand von Alamo, vor dem ein Typ mit blonden Locken stand, dessen gebückte Haltung darauf schließen ließ, dass er etwas ausfüllte. Ich unterdrückte einen Freudenschrei und beschleunigte meine Schritte. Ich war nur noch ein paar Meter von meinem Leihwagen entfernt, jubilierte innerlich.

„Sie haben Glück, das ist der letzte Wagen, den wir noch haben“, hörte ich den Verkäufer sagen, als er einen Autoschlüssel hochhielt und ihm Lockenkopf übergeben wollte.

Unglaubliche Wut erfasste mich, es konnte doch wirklich nicht wahr sein, dass ich so kurz vorm Ziel doch wieder den Kürzeren ziehen sollte. Ich brauchte dieses Auto, denn es wäre vermutlich wirklich das Letzte, das in New York verfügbar war… oder besser gewesen war. Ohne darüber nachzudenken, was ich da machte, sprintete ich die letzten Meter zum Stand und riss dem Verkäufer den Autoschlüssel in allerletzter Sekunde aus der Hand, bevor er ihn an Lockenkopf übergeben konnte.

„Was zum…“, knurrte dieser los und drehte sich dann ruckartig zu mir um. Smaragdgrüne Augen bohrten sich verärgert in mich hinein und ich trat unwillkürlich einen Schritt zurück, nicht wissend, wie ich reagieren sollte. Jetzt hatte ich zwar den Schlüssel in der Hand aber keine Ahnung, wie es weiter ging. Klasse Alice!

„Miss, ich würde Ihnen raten, den Schlüssel zurückzugeben, denn Mr. Whitlock hier hat den Wagen gemietet und demnach ist der Schlüssel rechtmäßig seiner“, sagte der Verkäufer in bemüht ruhigem Ton, auch wenn ich klar sehen konnte, dass er ebenfalls sauer war.

„Ich will ja weder den Schlüssel noch das Auto stehlen, ich möchte Mr. Whitlock hier“, ich nickte Lockenkopf zu, „bloß das Angebot einer Fahrgemeinschaft machen“, hörte ich mich selber sagen.

Lockenkopfs Augen verdunkelten sich noch mehr und er lachte humorlos auf. „Du willst mir das Angebot einer Fahrgemeinschaft machen, obwohl du gar nicht weißt, in welche Richtung ich fahren muss? Dazu noch nachdem du mir den Schlüssel geklaut hast und ich eigentlich gar keine andere Chance mehr habe, als zuzustimmen?“

„Wohin musst du denn fahren?“, fragte ich mit einem breiten Grinsen im Gesicht.
„Vergiss es“, schnaubte er auf. „Gib mir den Schlüssel und lass mich in Ruhe.“ Er machte einen Schritt nach vorne und versuchte, mir den Schlüssel zu entreißen, aber ich konnte meine Hand im letzten Moment zurückziehen.

„Nun komm schon. Morgen ist Weihnachten und du bist doch sicherlich ein Gentleman, der eine arme Frau nicht einfach hilflos am Flughafen stehen lässt. Könntest du das mit deinem Gewissen vereinbaren?“, versuchte ich es auf die Mitleidstour.

„Gib mir einfach den verdammten Schlüssel. Ich muss bis morgen früh in Naperville sein und habe für solche Scherze wirklich keine Zeit“, seufzte er und fuhr sich mit der Hand frustriert durch die Haare.

„Naperville?“, fragte ich aufgeregt und nicht in der Lage, meine Begeisterung über seinen Ankunftsort zu verbergen. „Das trifft sich ja hervorragend, ich muss nach Chicago.“ Ich klimperte mit dem Schlüssel direkt vor Lockenkopfs Nase herum und hakte mich dann bei ihm unter. „In welche Richtung geht’s zum Auto?“

Lockenkopf stöhnte frustriert auf und versuchte seinen Arm meinem Griff zu entreißen. „Willst du mich eigentlich verarschen? Ich hab gesagt, ich fahre alleine. Ich brauche keine Gesellschaft und ich werde bestimmt kein schlechtes Gewissen haben, dich hier stehenzulassen. Ich würde mich eher ärgern, mit einer Verrückten wie dir durch das halbe Land zu fahren.“ Seine Worte waren wie ein Schlag in die Magengrube. Geschockt und verletzt lockerte ich den Griff um seinen Arm, was ihm ermöglichte, ihn zu entziehen. Mit der anderen Hand griff er blitzschnell nach dem Autoschlüssel und nahm ihn ebenfalls an sich.

„Na also, geht doch“, sagte er ziemlich selbstzufrieden, drehte sich um und ging ohne ein weiteres Wort davon. Ich blickte ihm ein paar Sekunden lang regungslos hinterher. Ich war so gut wie nie sprachlos, aber bei dieser geballten Ladung Unfreundlichkeit und Respektlosigkeit fiel selbst mir nichts mehr ein. Was glaubte dieser Idiot eigentlich, wer er war? War er immer so abweisend zu allen Leuten? Wo war das verdammte Problem, mich mitzunehmen, wenn er doch eh in die gleiche Richtung musste wie ich? Eine Alice Cullen ließ man nicht einfach ungestraft stehen. Schon gar nicht einen Tag vor Weihnachten.

Plötzlich kam Leben in meinen Körper und ich sprintete, so schnell es mein Koffer eben zuließ, hinter diesem Whitlock her. Ich holte ihn ein, als er gerade das Flughafengebäude durch die gläsernen Schiebetüren verließ. Ich blieb zunächst hinter ihm und folgte ihm, ohne einen Ton von mir zu geben. Wollten wir doch mal sehen, wann ihm meine Anwesenheit auffiel. Durch das laute Rattern meiner Kofferrollen auf dem unebenen Boden musste er mich schließlich hören.

Es dauerte einen Augenblick bis er sich schließlich umdrehte. Seine Augen weiteten sich geschockt als er mich erblickte und verengten sich dann verärgert. „Was zur Hölle willst du? Habe ich mich gerade etwa nicht klar genug ausgedrückt?“, fuhr er mich an. Er dachte jedoch nicht daran stehenzubleiben, sondern ging weiter in Richtung Parkplatz.

„Schlecht hören konnte ich schon immer gut“, antwortete ich nicht weniger patzig. „Vielleicht lass ich mich auch einfach nicht mit einer faulen Ausrede abspeisen.
Herrje, morgen ist Weihnachten, da könntest du doch wirklich mal ein wenig Menschlichkeit zeigen und mich mitnehmen. Ich bin auch ganz ruhig, du wirst überhaupt nicht merken, dass ich da bin.“

Lockenkopf blieb abrupt stehen und drehte sich zu mir um. Der Blick, mit dem er mich bedachte, war dermaßen unglaubwürdig, dass ich beinahe angefangen hätte zu lachen. „Ich kenne dich jetzt fünf Minuten und du hast es nicht geschafft, eine halbe Minute davon still zu bleiben. Da soll ich dir abkaufen, dass du zwölf Stunden den Mund halten kannst?“, lachte er kurz auf und schüttelte dann den Kopf.

Ich zuckte mit den Schultern. „Vielleicht quassel ich ja nur solange so viel, bis ich hab, was ich will“, log ich ihm schamlos ins Gesicht ohne rot zu werden. Er hatte schon vollkommen Recht, mein Mund schien ein Eigenleben zu führen, aber wenn ich mir erst mal den Beifahrerplatz im Auto ergattert hatte, war es für ihn eh zu spät, sich noch einmal anders zu entscheiden. Er würde mich schließlich nicht mitten in der Nacht auf einer verlassen Landstraße aussetzen.

Oder?

„Außerdem, betrachte doch mal die Vorteile, wir können uns mit dem Fahren abwechseln, können uns die Pausen also sparen und du bist viel früher in Naperville, als wenn du alleine fahren würdest“, redete ich weiter auf ihn ein, als er seinen Weg zum Auto fortsetzte.

„Abzüglich der stündlichen Pause, weil Madame aufs Klo muss“, brummte er, aber diesmal konnte ich dabei ein kleines Lächeln auf seinen Lippen sehen.

„Du hast ganz schön viele Vorurteile, hmm?“, fragte ich.

„Das sind keine Vorurteile, ich kenne das weibliche Geschlecht einfach nur genau“, erwiderte er viel sanfter als ich erwartet hätte. Vermutlich dachte er dabei an seine Freundin, was auch erklären würde, warum er so versessen darauf war, bis morgen nach Hause zu kommen.

Wir waren auf dem obersten Parkdeck angekommen und traten aus dem Treppenhaus in die eiskalte Luft. Eine 20 Zentimeter dicke Schneeschickt lag auf dem Boden und mitten auf dem großen, ansonsten verlassenen Parkplatz wölbte sich ein einziger Hügel aus der Ebene hinaus – unter der sich vermutlich der Leihwagen befand.

Ein starker Wind pfiff uns Schneeflocken um die Ohren und ich musste mich anstrengen, um gegen den Wind überhaupt vorwärts zu kommen.

„Warum muss das einzige Auto, dass die noch haben, auf dem verdammten obersten Parkdeck stehen, wo es eingeschneit ist?“, seufzte Lockenkopf und fuhr sich mit der Hand durch die Harre.

„Schlechtes Karma?“, lachte ich leise. Ich fand es jetzt nicht sonderlich schlimm, das Auto zuerst auszubuddeln, wenn ich genau wüsste, dass ich damit dann auch fahren dürfte.

„Karma?“ Er sprach es aus, als wäre es ein Schimpfwort. „Jetzt sag mir nicht, du bist auch noch so eine abergläubische Esoterik-Tante.“

Dieser Satz und der erschrockene Gesichtsausdruck auf seinem ansonsten sehr hübschen Gesicht brachten mich dazu, letztendlich in Gelächter auszubrechen. „Um Himmels willen nein. Aber ich kenne dich gerade einmal zehn Minuten und alles, was du seit dem gemacht hast, ist meckern. Und das, obwohl du derjenige von uns beiden bist, der das Auto sicher hat.“

Er sah mich zuerst für einige Sekunden erschrocken an und ich hatte schon Angst, dass ich ihn mit meiner Ehrlichkeit verärgert hatte, als er schließlich ebenfalls zu kichern begann und sich seine ganze Aura dadurch veränderte. Kleine Grübchen bildeten sich beim Lachen auf seinen Wangen und seine unglaublich grünen Augen begannen mit einer Intensität zu strahlen, dass ich sie wie hypnotisiert anstarrte.

Mir war vorher schon aufgefallen, dass Lockenkopf ein hübscher Mann war, aber wenn er lachte, war er einfach nur atemberaubend. Sein Lachen schien die Dunkelheit ein wenig zu vertreiben und mir kam es zusätzlich so vor, als wäre es plötzlich auch gar nicht mehr so kalt.

Himmel, was war nur mit mir los?

„Ich schätze, ich hab mich wie ein riesengroßes Arschloch verhalten, was?“, fragte er. Ich nickte bloß dümmlich grinsend, obwohl ich ehrlich gesagt keine Ahnung hatte, welche Worte seinen Mund verlassen hatten. Aber den Klang seiner Stimme, die jetzt so viel weicher war und mir einen warmen Schauer den Rücken runter schickte, vernahm ich sehr wohl.

Er kam um das Auto herumgelaufen und streckte mir die Hand hin, als er vor mir stand. „Ich bin Jasper und ich freue mich, dich für die nächsten Stunden als meine Beifahrerin zu haben.“

„Alice“, murmelte ich und griff nach seiner Hand. Trotz der dicken Handschuhe, die wir beide trugen, konnte ich die Wärme, die von ihm ausging, ganz deutlich spüren, als ich seine Hand schüttelte.

„Dann wollen wir das Auto mal frei buddeln, damit wir losfahren können.“ Jasper entzog seine Hand wieder meinem Griff und gemeinsam befreiten wir den Leihwagen, der sich als Mercedes E-Klasse entpuppte, von gefühlten drei Tonnen Schnee.

„Sorry, es war wie gesagt der einzige Wagen, der noch verfügbar war“, sagte meine Mitfahrgelegenheit entschuldigend, nachdem wir unsere Taschen im Kofferraum verstaut hatten und uns im Wageninnereren aufwärmten.

„Wenigstens hat er eine Standheizung.“ Meine Hände über die warme Luft haltend, die aus der Lüftung kam, konnte ich mich wirklich nicht dazu aufraffen, mich darüber aufzuregen, die nächsten Stunden in einem Opa-Auto zu verbringen. Das Teil war vermutlich mit ASB, ESP, Einparkhilfe und diesem ganzen anderen überflüssigen Scheiß ausgestattet, das die Deutschen neuerdings in ihre Autos bauten, um es sicherer zu machen.

„Wofür zur Hölle sind diese ganzen Knöpfe und Lichter?“, murmelte Jasper kopfschüttelnd, während er den Wagen langsam vom obersten Parkdeck hinunter in Richtung Ausfahrt fuhr.

Und als hätte er damit einen verdammten Schalter bei mir umgelegt fing ich an, ihm die Funktionen der einzelnen Lämpchen und Knöpfe zu erklären; Fernlicht, Nebelscheinwerfer, ESP, ABS, Klimaanlage, Standheizung, Sitzheizung, Tempomat, die Reinigung und Scheibenwischer für die Vorderlichter.

Jasper warf mir immer öfter immer verwirrtere Blicke zu, bis er meinen Monolog schließlich unterbrach. „Verkaufst du irgendwie Autos oder so?“

Blut schoss in meine Wangen und ich wandte peinlich berührt meinen Kopf zur Seite, weil mir klar wurde, dass ich mich vermutlich anhörte wie ein verdammter Freak.

„Nein“, seufzte ich schließlich. „Mein Bruder ist Mechaniker und arbeitet bei der Polizei. Wenn also ein Unfall passiert ist, muss er anhand der Schäden herausfinden, wie der Unfallhergang war, wie groß die Schäden sind und so weiter. Außerdem hält er natürlich die Autos der Polizei in Schuss, repariert sie und macht, was es sonst noch zu machen gibt“, erklärte ich.

„Und die Polizei in Chicago fährt nur Mercedes?“, wollte mein Nebenmann immer noch verwirrt wissen.

Diesmal war ich es, die in Gelächter ausbrach. „Um Gottes Willen nein. Aber er bekommt die Schäden, die ein Unfall an Autos verursacht, immer in all seiner Schrecklichkeit zu sehen. Außerdem habe ich noch einen anderen Bruder, der Unfallchirurg ist und der bekommt die Unfallopfer immer zu sehen…  lass es mich einfach so ausdrücken, die beiden reden einfach schon seit Jahren gemeinsam auf mich ein, wie gefährlich kleine, unsichere Autos sind und welche Extras ein Auto haben sollte, damit es möglichst unkaputtbar ist.“

Unkaputtbar? Was redete ich da für einen Scheiß? War das überhaupt ein Wort?

Ein wunderschönes Lächeln bildete sich auf Jaspers Gesicht und ich war erneut fasziniert von diesen unglaublich süßen Grübchen. War es überhaupt erlaubt für einen Kerl, bloß wegen seiner Grübchen so verdammt verführerisch auszusehen?

„Ich muss gestehen, an deiner Stelle würde mich das Verhalten deiner Brüder ziemlich nerven, aber als Bruder von drei kleinen Schwestern weiß ich genau, wie schnell man krank vor Sorge wird.“ Er zuckte entschuldigend mit den Schultern und mir wurde heiß unter dem Blick seiner grünen Augen, deren intensive Farbe selbst im Dunkeln gut zu erkennen war.

Ich nahm einen tiefen Atemzug, um mein plötzlich rasendes Herz zu beruhigen, bevor ich ihm antwortete. „Drei kleine Schwestern sind sicherlich anstrengend“, kicherte ich schließlich.

„Überhaupt nicht.“ Er schüttelte lachend mit dem Kopf. Ich war fasziniert davon, wie seine Locken wegen der Bewegung zu hüpfen begannen. „Ich glaube eher, meine Schwestern sind öfters mal genervt von mir, wenn ich mal wieder den beschützenden großen Bruder raushängen lasse, obwohl sie alle mittlerweile erwachsen sind.“

„Wie sind deine Schwestern so?“, fragte ich, weil es mich wirklich interessierte. Und nicht nur das; mir wurde schlagartig bewusst, dass ich noch vieles mehr aus Jaspers Leben erfahren wollte. Und damit meinte ich nicht die oberflächlichen Dinge.

Mich interessierte vielmehr, was seine geheimen Wünsche waren, worüber er lachen konnte, was ihn traurig und glücklich machte. Ich wollte wissen, wie er aufgewachsen war und welches Verhältnis er zu seinen Eltern und Schwestern hatte. Mich interessierte sein Freundeskreis, was er mit ihnen unternahm und wen er zu seinen engsten Vertrauten zählte. Kurzum, ich wollte alles über ihn erfahren.

Gott, was dachte ich da? Ich kannte ihn doch überhaupt nicht. Außerdem hatte er sicherlich eine Freundin. Jemand mit seinem Aussehen hatte immer eine Freundin. Was ich wirklich so verzweifelt, dass ich im Stillen Heiratspläne mit dem ersten halbwegs vernünftigen Kerl schmiedete, der mir über den Weg lief? Wenn ich nicht riskieren wollte, am Ende doch noch aus dem Auto geschmissen zu werden, sollte ich mich lieber zusammenreißen.

Jasper erzählte mir Geschichten von seinen Schwestern, während wir New York langsam verließen, im Gegenzug berichtete ich von meinen Brüdern. Zuerst kamen wir nur schleppend voran, weil die Straßen zugeschneit waren und New Yorker bei Schnee grundsätzlich kein Auto fahren konnten. Aber die Autobahnen waren relativ frei und je weiter wir uns von der Stadt entfernten, desto weniger von dem weißen Zeug bekamen wir zu Gesicht. Es schien so, als hätte der Sturm nur über New York sein Unwesen getrieben.

Je mehr ich von Jasper erfuhr, desto mehr war ich von ihm fasziniert. Er war unterhaltsam, witzig und intelligent. Mit ihm konnte man herumalbern, sich gleichzeitig aber auch ernsthaft unterhalten. Er machte sich Gedanken um Themen wie Politik, Klimawandel, Armut und Kriege, wurde aber zum kleinen Jungen, sobald unser Gespräch zu Comics und Zeichentrickfilmen abdriftete. Egal, was er mir erzählte, ich hing bei jedem Wort an seinen Lippen und versuchte, so viele Informationen wie nur irgend möglich in der kurzen Zeit, die wir zusammen hatten, in mich aufzusaugen.

Wir fuhren abwechselnd, machten alle paar Stunden eine kurze Pause um die Plätze zu wechseln und uns die Beine zu vertreten. Während wir zu Beginn noch fast ununterbrochen über Gott und die Welt quatschten, wurden die Gespräche weniger, je später es wurde. Nachts versuchten wir ein wenig Schlaf zu bekommen, wenn der andere fuhr. Ich fand jedoch keine Ruhe zum Schlafen, zu groß war die Angst, in der Zeit etwas zu verpassen, immerhin war meine Zeit mit Jasper begrenzt. Jasper schlief ebenfalls kaum, allerdings wusste ich nicht, ob es ihm genauso ging wie mir, oder ob seine Schlaflosigkeit einen anderen Grund hatte – Vorfreude, weil er seine Freundin bald wiedersah vielleicht?

Am frühen Morgen, wir hatten gerade die Staatsgrenze zu Illinois hinter uns gelassen, machten wir eine längere Pause, um zu frühstücken. Nachdem wir ein paar Minuten den Rastplatz entlanggelaufen waren, um etwas Bewegung zu bekommen, nahmen wir in dem kleinen Diner Platz und bestellten uns Rührei, Pancakes und Kaffee. Wie schon am Abend zuvor verfielen wir gleich wieder in ein angeregtes Gespräch und ich wurde leicht traurig als ich feststellte, dass unsere Reise in knapp zwei Stunden vorbei sein würde.

Ich hätte noch ewig mit Jasper im Diner sitzenbleiben können, leider sah er das ein wenig anders. Er war ganz unruhig vor Aufregung, bald nach Hause zu kommen und zerrte mich, kaum dass ich gegessen hatte, zurück zum Auto. Ich versuchte mir meine Enttäuschung nicht anmerken zu lassen, aber es wurde immer deutlicher, dass diese Anziehung, die ich verspürte, einseitig war.

Während der letzten zwei Stunden traute ich mich kaum, aus dem Fenster oder auf die Uhr zu schauen. Wenn mir noch vor 12 Stunden am Flughafen jemand gesagt hätte, wie traurig ich sein würde, wenn ich mich von Jasper trennen müsste, hätte ich ihn ausgelacht. Je näher wir meiner Heimatstadt jedoch kamen, desto stiller und in mich gekehrter wurde ich, weil ich verzweifelt nach einem Ausweg aus dieser schier verfahrenen Situation suchte.

Auch Jasper wurde immer ruhiger, je mehr wir uns Chicago näherten. Er warf mir immer wieder Blicke aus den Augenwinkeln zu, die mir eine Gänsehaut am ganzen Körper verursachten, auch wenn ich sie nicht recht einordnen konnte – wie auch den Rest von ihm nicht. Ich wusste einfach nicht, was er von mir hielt und ob er mich interessant fand. Manchmal hatte ich das Gefühl, er wäre von mir ebenso fasziniert wie ich von ihm. In anderen Situationen fühlte es sich eher so an, als fände er mich schlichtweg totlangweilig. Ich wurde einfach nicht schlau aus ihm, dabei würde ich so gerne mehr über ihn erfahren. Ich seufzte leise und sah zum ersten Mal, seit wir vom Rastplatz losgefahren waren aus dem Fenster, nur um festzustellen, dass wir bereits in der Straße meiner Eltern angekommen waren.

Jasper setzte mich vor der Haustür ab und stieg mit mir aus dem Auto, um meine Tasche aus dem Kofferraum zu holen. Als er sie mir überreichte, trat ein Ausdruck auf sein Gesicht, als würde er mir etwas sagen wollen. Der Konflikt war deutlich in seinen Augen erkennbar und ich hielt unwillkürlich die Luft an.

Sag es, sag es, sag es, schrie ich ihm innerlich geradezu entgegen. Wir standen immer noch neben dem Auto und so nah beieinander, dass ich mir einbildete, die Wärme,  die sein Körper ausstrahlte, spüren zu können. Wir waren völlig vom anderen absorbiert, als wir vor dem Haus meiner Eltern standen, als würde abseits von uns nichts existieren. Meine Augen flehten ihn an, mich nach meiner Handynummer zu fragen oder mir zu sagen, er wolle mich wiedersehen – irgendwas.

Gerade als Jasper den Mund öffnete, um endlich etwas zu sagen, wurde jedoch die Haustür von innen aufgerissen und meine Brüder kamen heraus gestürmt. Dieser Moment zwischen uns war vorbei, als er einen Schritt von mir zurückwich und sich gleichzeitig förmlich von mir verabschiedete. Ich wollte schreien vor Wut und gleichzeitig meine Brüder umbringen, weil sie diese Chance zerstört hatten, während ich dabei zusah, wie Jasper um die Ecke bog und damit unwiderruflich aus meinem Leben verschwand.

Die Weihnachtstage im Kreis meiner Familie waren wundervoll wie immer, ich genoss es, mich von meiner Mom verwöhnen zu lassen und mich mit meinen Brüdern wie in alten Tagen um jeden Mist zu streiten. Dieses Jahr begleiteten mich aber zusätzlich immer auch Gedanken um Jasper. Er war ständig da, im Hintergrund meiner Gedanken und schien nur auf einen Moment der Unachtsamkeit zu warten, um sich in den Vordergrund zu drängen.

Es ärgerte mich, dass ich so besessen von ihm war. Normalerweise dachte ich nicht weiter über einen Mann nach, den ich nur flüchtig kennengelernt hatte, vor allem wenn es ohnehin aussichtlos war, dass ich ihn wiedersehen würde. Aber ganz gleich, was ich probierte, ich bekam Jasper einfach nicht aus meinem Kopf.

Es war der erste Januar und ich war gerade dabei, meinen Koffer zu packen, da ich am nächsten Morgen zurück nach New York fliegen würde, als es an der Haustür klingelte und meine Mom kurz darauf nach mir rief. Dankbar für die Unterbrechung hastete ich die Treppen hinunter, nur um einen völlig verlassenen Flur vorzufinden.

„Mom?“, rief ich nach ihr, irritiert warum sie mich gerufen hatte, wenn niemand da war.

„Hier“, ertönte ihre Stimme plötzlich hinter mir. Sie drückte mir meinen Wintermantel in die Hand, kaum dass ich mich zu ihr umgedreht hatte und schob mich in Richtung Haustür. „Dein Typ wird draußen verlangt“, zwinkerte sie mir zu, nachdem ich verwirrt meine Jacke angestarrt hatte, ohne Anstalten zu machen, sie tatsächlich anzuziehen.

Ohne eine weitere Erklärung ließ Mom mich im Flur stehen und ging zurück ins Wohnzimmer. Ich wusste nicht, was das alles zu bedeuten hatte. Wenn mich jemand besuchen wollte, warum kam er dann nicht ins Haus? Wieso musste ich unbedingt raus in die Kälte? Schlussendlich zog ich mir dann doch meine Jacke über, um vor die Tür zu gehen, würde ich hier drinnen doch nicht erfahren, was los war. Einen dummen Kommentar bereits auf den Lippen, riss ich die Tür auf und trat hinaus in die Dunkelheit.

Ich hatte wirklich mit allem gerechnet, aber nicht damit, ihn zu sehen.

Jasper stand in dunkle Jeans und eine helle Winterjacke gekleidet vor dem Mercedes, mit dem wir noch vor einigen Tagen von New York hierher gefahren waren. Seine blonden Locken hingen ihm wirr ins Gesicht und ein unbeschreibliches Lächeln zierte sein Gesicht, als er mich erblickte. Er sah noch viel besser aus, als ich ihn in Erinnerung hatte. Mein Herz begann in meiner Brust zu rasen und ich musste mich zusammenreißen, ihm nicht direkt um den Hals zu fallen. Stattdessen ging ich langsam auf ihn zu und mit jedem Schritt, den ich ihm näher kam, wurde auch das Grinsen auf meinem Gesicht breiter.

„Hey“, hauchte ich ein wenig atemlos, als ich direkt vor ihm stand.

„Hi“, grinste er und wirkte plötzlich ein wenig nervös. „Ich hoffe, ich störe dich nicht gerade bei irgendwas“, begann er und blickte verlegen zur Seite.

„Nein, nein“, beeilte ich mich zu sagen.

„Gut“, nickte er erleichtert und wandte mir seinen Blick wieder zu. „Ich… also wie du siehst, bin ich mit dem Auto hier, mit dem wir vor ein paar Tagen schon gefahren sind und…“ Er fuhr sich mit der Hand durch die Haare und lachte kurz auf. „Ich bin gar nicht dazu gekommen, dir zu sagen, wie sehr ich deine Gesellschaft genossen habe auf der Hinfahrt. Ich weiß, es klingt total bescheuert, aber ich musste die letzten Tage immerzu an dich denken und ich wollte dich fragen, ob du vielleicht Lust hast, wieder mit mir zusammen zurück nach New York zu fahren.“

Es dauerte einen Augenblick, bis mir die Bedeutung dieser Worte klar wurde, aber dann gab es für mich kein Halten mehr. Ich schmiss mich ihm quietschend vor Freude in die Arme, nicht dazu fähig, eine klare Antwort auszusprechen.

„Ich werte das mal als Ja“, lachte Jasper, nachdem er mich aufgefangen hatte. Seine Arme waren fest um mich geschlungen und sein Geruch vernebelte mir die Sinne. Ich wollte am liebsten für immer in dieser Umarmung verweilen, doch ich lehnte mich ein wenig zurück, um ihm in die Augen sehen zu können.

„Du hast keine Freundin? Ich dachte, du wolltest wegen ihr so dringend nach Hause“, sprach ich meine Bedenken aus, die mich die ganze Zeit über bedrückt hatten.

„Nein, ich hab keine Freundin. Ich wollte so dringend nach Hause, weil meine Schwester Geburtstag hatte und ich ihr versprochen habe, morgens da zu sein“, erklärte er. „Also, Miss Cullen, erweisen Sie mir die Ehre und begleiten mich nach New York?“

„Natürlich.“ Ich würde mit ihm überall hinfahren. „Aber diesmal lässt du mich nicht einfach stehen, ohne mir deine Handynummer zu geben.“

„Versprochen“, grinste er, lehnte sich zu mir und drückte mir einen sanften Kuss auf den Mundwinkel, der mich alles andere vergessen ließ.



PLATZ 1.
des "FanFiktionTwilightAdventskalender"-Oneshotwettbewerbs 2010